Sechs Romane stehen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023. Hier stellen wir alle Bücher vor und präsentieren ihre Autorinnen und Autoren im Interview.
Tonio Schachingers Roman ist an einer traditionsreichen Wiener Eliteschule verortet, einem beeindruckenden Gebäude mit Park, Hallenbad und Tennisplatz. Hier lernen und leben die Kinder der gehobenen Gesellschaft. Schachingers Hauptfigur Till leidet unter Dolinar, seinem Klassenvorstand, der ein übles Klima prägt: Strafen, Angst und Demütigungen bestimmen den Alltag "seiner" Klasse. Till kann seinem Umfeld nichts abgewinnen, er verliert sich in ein Echtzeit-Strategiespiel, wo er zur Berühmheit avanciert. Doch wie echt ist sein Online-Glück?
Begründung der Jury: Tonio Schachingers "Echtzeitalter" gelingt das Kunststück, als Coming-of-Age-Roman ebenso einfühlsam wie dezent zu sein. Stilistisch brillant, aber nie aufdringlich wird die Geschichte des Wiener Gymnasiasten Till erzählt: Zerfall der Familie, Freundschaften, erste Liebe, der diabolische Klassenlehrer Dolinar und seine despotischen, aber auch prägenden Lektionen über Literatur und Sprache. Eine Analyse österreichischer Gesellschaft, die an Klarheit und Schärfe Thomas Bernhard in nichts nachsteht und doch im Ton eher leise und sanft bleibt. Nicht zuletzt: eine literarische Reflexion der Welt von Computer-Echtzeitgames, die in ihrer Feinheit, Luzidität und Klischeefreiheit ihresgleichen sucht.
Antonio Schachinger, Jahrgang1992, geboren in Neu Delhi, hat an der Universität Wien Germansitik studiert und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Dort lebt er heute noch. Schon sein erster Roman, "Nicht wie ihr" schaffte es 2019 auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Außerdem war Schachinger für den Rauriser Literaturpreis nominiert und wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet.
"Muna oder Die Hälfte des Lebens" erzählt in Ich-Perspektive das Leben einer Frau in emotionaler Abhängigkeit. Der Vater früh an Krebs gestorben, die Mutter ist von Alkohol und Tabletten abhängig. Für Muna sind Beziehungen von klein auf schmerzhaft und schwierig. Ihre erste große Liebe wird toxisch, ihr Partner demütigt und gängelt sie. Terézia Mora gelingt mit "Muna oder Die Hälfte des Lebens" ein beeindruckend bedrückender Roman.
Begründung der Jury: Wie viel Kälte kann ein Mensch ertragen, ohne zu zerbrechen, ohne sich ganz und gar zu verlieren? Terézia Mora schenkt uns mit Muna eine eigensinnige, mutige Protagonistin, die sich trotz ihrer Stärke in eine toxische Beziehung stürzt. Es geht um Verführung, Missbrauch, seelische Gewalt und Selbstermächtigung. "Muna oder Die Hälfte des Lebens" ist ein Roman, der nachhallt.
Terézia Mora, Jahrgang 1971, geboren in Sopron in Ungarn, ist zweisprachig, ungarisch und deutsch, aufgewachsen und lebt seit 1990 in Berlin. 1999 wurde sie mit ihrem Erzählband "Seltsame Materie" mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet; 2013 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman "Das Ungeheuer". 2018 folgte der Georg-Büchner-Preis für ihr Gesamtwerk.
Necati Öziris erzählt die Familiengeschichte über einen Sohn, eine Mutter und eine Schwester, deren Leben und Körper gezeichnet sind von sozialen und politischen Umständen. Es ist gleichzeitig ein Buch über einen abwesenden Vater, der die Familie verließ, bevor der Erzähler geboren wurde. Es geht um das Finden der eigenen Identität trotz väterlicher Leerstelle und um das Leben in Deutschland in der dritten Generation türkischer Einwanderer.
Begründung der Jury: Der junge Arda liegt mit Organversagen im Krankenhaus und schreibt zum Abschied einen Brief an den abwesenden Vater, den er nie kennengelernt hat. Darin lässt er sein bisheriges Leben Revue passieren: Konflikte mit der alkoholkranken Mutter, eine Schwester, die von zuhause abhaut, endlose Stunden auf dem Ausländeramt, aber auch die erste Liebe und die gemeinsame Zeit mit den Freunden Savaş, Bojan und Danny. Mit „Vatermal“ fängt Necati Öziri den Sound der Straße ein: wütend, schlagfertig, witzig und zart. Seine jugendlichen Helden suchen Orientierung in einer Gesellschaft, in der sie nie wirklich ankommen. Öziri öffnet uns für diese deutsche Realität die Augen.
1978 geboren in Datteln in Nordrhein-Westfalen lebt der Schriftsteller und Theaterautor in Berlin. 2021 war er für den den Ingeborg-Bachmann-Preis mit dem Text "Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben" nominiert und holte bei den "45. Tagen der deutschsprachigen Literatur" sowohl den KELAG als auch den Publikumspreis.
Anne Rabe erzählt die autofiktionale Geschichte von Stine, die in der DDR in einer systemtreuen Familie aufwächst und deren Koordinatensystem durch das Ende der DDR durcheinandergerät. Ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt. Anne Rabe hat ihre Familiengeschichte in einen Roman verwandelt und lädt damit ein zu einer Spurensuche in die Schmuddelecken der DDR-Vergangenheit.
Begründung der Jury: Anne Rabe beschreibt eine Kindheit an der ostdeutschen Peripherie, ein Aufwachsen im Chaos der Wende- und Nachwendezeit, die Eskalation der Gewalt der 1990er Jahre. Die Elterngeneration verzweifelt am Ankommen in der neuen Realität. Durch aufwendige Archivarbeit belegt Anne Rabe, wie stark das kulturelle Klima der DDR beeinflusst war von unaufgearbeiteten Kriegserfahrungen. Durch diese scharfe Analyse und eine hochemotional erzählte Familiengeschichte gelingt ihr damit ein aufrüttelnder Beitrag zu aktuellen Debatten über die Ursprünge von Gewalt und Menschenfeindlichkeit.
Anne Rabe; Jahrgang 1986, geboren in Wismar, studierte Szenisches Schreiben in Berlin an der Hochschule der Bildenen Künste und und lebt dort bis heute. Sie schreibt vor allem Drehbücher für TV-Serien und publiziert zahlreiche Essays in deutschen Print- und Online-Medien.
Sylvie Schenk spürt in ihrem Roman "Maman" dem Geheimnis ihrer Mutter nach: Warum war diese Frau für ihre fünf Kinder so unnahbar, warum konnte sie nie zärtlich zu ihnen sein? Statt einer Anklage wird aus dieser Frage das ergreifende Porträt einer selbst nie geliebten Frau.
Begründung der Jury: Sylvie Schenk begibt sich mit ihrem neuen Buch auf eine Spurensuche, die zur Lebensgeschichte ihrer Mutter, ihrer Familie und damit zu ihren eigenen Wurzeln, ihrem eigenen Wesen führt. Kunstvoll verwebt sie dabei Fakten und Fiktionen und verdichtet sie zu einer literarischen Biografie, die der Sprachlosigkeit der Mutter eine Erzählung entgegensetzt, in der auch Armut, Scham, Trauma und Zweifel ihren Ausdruck finden. So entsteht ein stiller Text voller Wucht, der ohne Sentimentalität, aber mit großem Einfühlungsvermögen und historischer Neugier das zu erkunden versucht, was wir Herkunft nennen.
Sylvie Schenk wurde 1944 in Chambéry in Frankreich geboren, studierte in Lyon und lebt seit 1966 in Deutschland. Zunächst arbeitete sie als Lehrerin, ab 1976 als Autorin für Schulbuchverlage. Literarisch war sie zunächst auf französisch tätig und veröffentlichte Lyrikbände, seit 1992 schreibt sie Romane und Kurzgeschichten auf Deutsch.
Ulrike Sterblichs Roman "Drifter" erzählt eine wilde Geschichte, in der surreale und übernatürliche Momente die beiden protagonisten Wenzel und Killer nicht im geringsten Erschüttern. Killer wird vom Blitz getroffen, der Hund einer Influencerin kann tanzen. Und dann ist da noch der Autor "Drifter", dessen Roman es nicht in Buchhandlungen gibt.
Begründung der Jury: "Drifter" von Ulrike Sterblich ist ein einziger furioser Ritt. Eine bitterböse Satire auf den Literaturbetrieb, die PR-Branche, Kunst, Social Media, Aktienmanager und Heldenverehrung. Gleichzeitig erzählt das Buch von der tiefen Freundschaft zwischen den Protagonisten Wenzel und Killer – einer Männerfreundschaft, wie man sie selten gelesen hat. Einzigartig ist die mephistophelische Figur der Vica: Unvergesslich, enigmatisch und verführerisch. Falsche Fährten legend führt Sterblich uns vergnüglich an der Nase herum. Eine meisterhafte Geschichte über das große Nichts.
Ulrike Sterblich, Jahrgang 1970, stammt aus dem damaligen West-Berlin. Die studierte Politologin schreibt Romane, Artikel und Kurz-Hörspiele. 2022 wurde ihr Buch "Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch" zum Sachbuch des Jahres 2022 gewählt.