Es ist 1996. And the winner is: TOCOTRONIC! In der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ bekommt die Band den COMET überreicht - einen Nachwuchspreis des Musikfernsehsenders VIVA. Und Tocotronic? Fühlen sich nicht so jung. Wollen keinen Preis dafür haben, dass sie deutsch sind. Und auf dem Weg nach oben? Naja, schauen wir mal.
Was ist passiert? Wo fing das an? In Hamburg, natürlich. Tocotronic schaffen es, mit Lofi-Sound, deutschen Texten, Cordhosen und Trainingsjacken aus ihrem Proberaum auf die Titelseiten der Musikmagazine. Das verstehen nicht alle - von Anfang an scheiden sich die Geister an Tocotronic. Die Band schafft es trotzdem auf die VIVA-Bühne! Und da zeigt sie gleich zu Beginn ihrer Bandgeschichte Haltung. Wo fing das an, was ist passiert, was hat die bloß so inspiriert?
Mitte der Neunziger definiert das Musikfernsehen den Teen Spirit. Wer als Band etwas werden will, ist nicht mehr auf die Radiocharts angewiesen. Dafür auf Bildschirmzeit. Video killed the radio star! Nirvana nehmen ihr legendäres Unplugged-Konzert für MTV auf, Tocotronic nehmen ihre erste EP auf - und singen lässig: "Du bist hier nicht in Seattle, Dirk".
Nein, Hamburg ist nicht Seattle und Arne, Jan und Dirk sind nicht Nirvana. Aber eins haben die beiden Bands gemeinsam: Sie lassen sich nicht gern vereinnahmen. Teil einer Jugendbewegung sein, ist natürlich trotzdem schön: Hallo Hamburger Schule! Hallo Plattenfirma! Drei Alben müssen unbedingt schnell herausgebracht werden. Und es gibt reichlich Anerkennung: Vom Musikmagazin Spex, von der Bravo - und von VIVA. And the winner is: TOCOTRONIC! Aber nicht um jeden Preis...
Drei Freunde finden sich: Was sie verbindet, ist nicht nur die Liebe zur Musik und der Wunsch eine Band zu gründen, es sind auch ähnliche Erfahrungen, die sie als Kinder und Jugendliche machen: Anderssein, Ausgrenzung, Mobbing. Wie schafft man es trotzdem, irgendwie, irgendwo dazuzugehören?
Arne und Jan werden schon auf einem Schulhof in Hamburg Freunde. Währenddessen träumt Dirk im Offenburger Kinderzimmer davon, wie er Interviews gibt. Über den Umweg Freiburg findet er schließlich den Weg nach Hamburg, an die Jura Fakultät, und landet bei Arne und Jan. It's a match. Die drei schaffen sich als Band den Safe Space, den sie in ihrer Jugend nicht hatten. Und dann ... passiert das Leben.
Mit jeder Albumveröffentlichung wächst der Erfolg von Tocotronic und auch die Ambitionen werden größer: Für das Album K.O.O.K. nimmt sich die Band erstmals richtig viel Zeit. Es geht auf nach Frankreich für eine einmonatige Aufnahmesession. Eine Zeit, die Jan und Dirk wie im Rausch erleben. Für Arne hingegen wird sie zur Qual. Ein herausfordernder Moment für die drei Freunde, Arne strauchelt, hadert, überlegt aufzuhören. Und macht dann doch weiter. Es folgt die Tour zum Album. Und der Toco-Kreis wird um eine Person größer. Rick schafft den Sprung auf die Bühne: Vom Merch-Verkäufer zum Band-Gitarristen. Das nächste Album, das Weiße Album, soll ein Meilenstein werden, ihre musikalische Neuerfindung - doch erst einmal finden Tocotronic: Nichts.
Zu Beginn der 00er Jahre verliert Dirk sich mehr und mehr im Exzess, er sucht regelrecht danach, findet darin auch Inspiration. Er hält sich viel in Berlin auf, wo seine Freundin lebt. Die Band befindet sich parallel in einem schleppenden Prozess der Neuerfindung. Mit Produzent Tobias Levin erschaffen sie einen neuen Tocotronic-Sound für ihr weißes Album. Eins zu Eins ist jetzt endgültig vorbei. Tocotronic haben sich neu aufgestellt. Und Dirk trifft eine Entscheidung: Hier weiterleben? Nein, Danke. Er verlässt Hamburg und geht nach Berlin. Da ist man zwar arm, aber sexy. Jan bereitet das Sorgen. Wie probt man nun, wie nimmt man auf? Hält die Band diese Fernbeziehung aus? Musikalisch wird Berlin für sie schon bald ein Glücksgriff, denn hier treffen sie auf den Trickser.
Tocotronic treffen in Berlin auf eine Schlüsselfigur ihrer Bandgeschichte: Moses Schneider, den sie den Trickser nennen. Mit ihm nehmen sie in einem Keller in Berlin-Kreuzberg das Album "Pure Vernunft" auf. Innerhalb von wenigen Tagen. Die Arbeit mit Moses verändert den Sound der Band. Und sie sind jetzt zu viert - Rick Mc Phail wird festes viertes Bandmitglied. Noch etwas ändert sich. Sie wechseln zu Universal, zur großen Plattenfirma. Droht jetzt der Ausverkauf der Ideale? Je erfolgreicher sie werden, desto mehr steigt auch der Druck, weiterhin abzuliefern, relevant zu sein und zu bleiben. 2010 stehen sie mit dem Album "Schall und Wahn" zum ersten Mal auf Platz 1 der Charts. Es ist die Ruhe vor dem nächsten Sturm…
Im Mai 2015 veröffentlichen Tocotronic ihr rotes Album. Es ist ein Album über Liebe, Solidarität und die Öffnung von Grenzen. Kurz darauf öffnet Deutschland tatsächlich die Grenzen. Im sogenannten Flüchtlingssommer 2015 geht ein Ruck der Solidarität durch Deutschland. Die Stimmung in Europa kippt allerdings schnell, statt Willkommenskultur ist schon bald der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Wie geht die Band damit um? Und wie reagiert sie auf das Outing von Arne, der seine Suchtprobleme öffentlich macht?
Es war einmal eine Band ohne Frauen. Ohne Frauen? Von wegen: Ohne Myriam Brüger kein Plattendeal am Anfang, ohne Kersty Grether würde der schönste Artikel über die Band fehlen, ohne Barbara Wagner wären Tocotronic-Touren nicht vorstellbar. Gerne sagt man Tocotronic nach, eine andere Männlichkeit zu repräsentieren... Wie sehen sie sich selbst, wie werden sie von anderen gesehen? Wo haben sie ihren Einfluss genutzt, um Frauen auf die Bühne zu holen? Wo wurden sie selbst von Frauen und Musikerinnen beeinflusst? Wie männerdominiert war die Hamburger Subkulturszene in den 90er Jahren? Und wie positionieren sich Tocotronic heute in der männlich dominierten Musikbranche?
30 Jahre Tocotronic – wie lange kann das noch weiter gehen? Jedes Album kann das Letzte sein, sagen sie selbst. Schließlich werden sie nicht jünger. Die Angst vorm Ende, ist sie schon da? Macht sie die Band mürbe oder kann ihre Energie genutzt werden als Triebfeder, Inspiration, Lehrmeister? Immerhin: Ein neues Album ist auf dem Weg...
Hamburg, 1993: Drei schlaksige Typen mit gescheitelten Haaren, in Cordhosen und Trainingsjacken werden beste Freunde und schaffen sich in ihrem Proberaum den Safe Space ihres Lebens. Hier können sie ungestört anders sein. Und sie klingen anders: Unmittelbar, nach Lärm und Leben. Sie treffen nicht immer die Töne, aber sie treffen einen Nerv. Mit Tocotronic bekommen deutsche Texte eine neue Dimension. "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", "Aber hier leben? Nein, Danke", "Im Zweifel für den Zweifel", "Keine Angst für niemand" – ihre Songs werden zu oft zitierten Slogans.
In den vergangenen 30 Jahren sind auf ihren Studioalben die großen persönlichen und gesellschaftlichen Themen zu Sound geworden. Der neunteilige ARD-Podcast "This Band is Tocotronic" (rbb/ARD Kultur/NDR Kultur) erzählt an der Schnittstelle von Musik, Popkultur und Zeitgeschehen die Geschichte von Tocotronic und ist zugleich dem Versprechen von Popmusik auf der Spur. Die ersten beiden Folgen gibt es ab 26. Oktober 2023 in der ARD Audiothek und auf ardkultur.de zu hören.
rbb/NDR/ARD Kultur | 2023 | 9 x 30 Minuten
Hostin: Stefanie Groth
Eine gemeinsame Produktion von rbb, NDR Kultur und ARD Kultur