Willkommen zu "Wahl Watching", dem täglichen musikalischen Update in den Tagen vor und nach der Landtagswahl 2024 in Thüringen – präsentiert in 12 Songs.
Wie verlaufen Reaktionen auf ein Thema wie Interkulturalität, oder auf ein mit öffentlichen Mitteln gefördertes Festival zu Quietschemusik. Was öffnet oder schließt welchen Raum, wer entscheidet über Bleiben oder Gehen? Unser Team besucht die Plätze der Stadt, die Agoras, es erkundet verbliebene Begegnungsorte, auf denen noch physisch direkt, face to face, progressiv gestritten wird und nicht nur anonym gehatet. Heute geht es um Pro und Contra "Avantgarde". Immer her damit, gib` mehr davon, oder kann das weg?
Welche Gewichtung nimmt das Ereignis der Wahl vom vergangenen Sonntag für die Bürger*innen in Ihrer Wirklichkeit ein? Was kommt noch an, was ist da, wie geht es weiter? Droht – für manche – eine düstere Zukunft? "Nicht alle Welt", so jedenfalls gaben uns Thüringer*innen ihre Gefühlslage wieder, in Bezug auf allzu brennende Untergangsszenarien mancher. Düsternis auf der einen, ein noch nicht ganz ausbalancierter Optimismus auf der anderen Seite. Alarmierend? Oder eben "nicht alle Welt"?
Rund um die Landtagswahl hier in Thüringen haben uns viele Wähler*innen davon erzählt, dass sie das "heute" wie als einen Feind empfinden, das Gestern beziehungsweise "Früher" dagegen wie einen alten, aber geraubten Freund, welcher einmal Sicherheit bedeutet hat. Einige sprachen von dem diffusen Gefühl, einen ganzen Lebensstil verloren zu haben, so, als ob es ihn nie gegeben hat, den sie aber jetzt wieder sichtbar machen wollen. Manche gar als einzige Wirklichkeit. Anderes soll weg und gar nicht erst vorkommen. Wieder andere sagen, man müsse Neues immer umarmen, um weiterzukommen, weil Zeit bleibt nicht stehen außer die alte.
Es gibt ein Ergebnis. Alles klar. Ohne Andrea Doria. „Die Zäune sollen höher!“, rufen immer mehr. „Die Räume nur für uns!“, rufen immer mehr. „Die Kleidung so wie wir!“, rufen immer mehr. Stefanie – nicht umdrehen! In unserer Gegend wird weiße Kleidung getragen, Du kennst das! Du musst Dich an die Bräuche halten, und die heißen unter anderem: angemessene Kleidung. Nicht umdrehen, Stefanie. Du wirst in dem Verkommen hier nicht vorkommen. Zahltag. Zwei Tage nach Wahltag.
Heute heißt unsere gesungene Berichterstattung "Welche Lügen". Wir haben einen Tag nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen nach der Wahrnehmung gefragt – direkt nach einem solchen, für manche als Erschütterung erlebten Ereignis. Betrug? Trick? Übertreibung? Hinterslichtführung? Alles erwartet, alles nur einzuordnen? Überzeugungen sind hart getroffen. Wie kann ich mich mit einer Gegenwart vertragen, die mich nicht aushalten will? Die nicht gemeinsam sein will, mit mir und mit Anderen, die Unverträglichkeit bevorzugt. Gewünscht oder bekämpft, wir sprechen das aus.
Heute ist Halbzeit. Und heute ist Wahltag. "Bevor wir kippen", so ist unsere parallel laufende Event-Reihe in Weimar betitelt, in der wir herausfinden wollen, welche Begriffe besonders aufladen, welche tatsächlich relevant sind, welche nur Getöse. Was wird sich wirklich ändern in der "Zeitenwende", wer dominiert darin welche Themen? Was geht, was bleibt? Mehr Autorität, weniger Mitbestimmung? Die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das Ende der Erinnerungskultur? Brauchtum statt Progression? Echte Männer an die noch mehr echte Macht? Heute war Urnengang. Wird Morgen Gestern sein? Hoffentlich nicht.
Heute melden wir uns aus dem DNT, dem Deutschen Nationaltheater Weimar. Auch diesmal geht es um ein Thema, welches wir aus Stimmen der Umgebung komprimiert haben, einen Tag vor der Landtagswahl hier in Thüringen. Der Begriff, den wir diesmal besingen, lautet "Verschiedenheit". Verschiedenheit mit all ihren Klarheiten und Täuschungen, Schönheiten und Verstrickungen. Hier auf der Straße wird sie gelebt, gefeiert und manchmal auch attackiert, so unser Eindruck.
Übermorgen ist Landtagswahl. Wir wollen herausfinden, welche Punkte die Bürger*innen so kurz vor einer Abstimmung stark machen wollen, welche schwächen. Was soll leuchten, wer bleibt im Keller? Heute heißt unser Lied bewusst trotzig "Wir werden hier bleiben" und erzählt von der hier – Stand jetzt – vielfach beschworenen Überzeugung, nicht nachzugeben, einzutreten für ein Grundrecht auf Gleichbehandlung, egal welcher Herkunft. Oder, um es mit Goethe zu sagen: "Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter".
Was brauchen wir, was nicht? Was gehört erhalten, gestärkt, von der Gemeinschaft gefördert? Was wird von der Gemeinschaft abgewählt, verkleinert, gar dauerhaft verbuddelt? Um sauber zu urteilen, braucht es gesunde Ambiguität: Ist das lebensnotwendige Kultur – oder kann das weg? Randgruppenunnötigkeit oder Teil einer sinnigen Vielfalt? Einen Tag nach Goethes 275. Geburtstag fragen wir uns hier in Weimar, ob die Spielart "Zeckenpunk" von ähnlicher Substanz ist, oder ob sie, anders als das stabile Dichterfürstwerk, kurz vor ihrem letzten Tanz steht.
Heute – super aktuell zu Goethes 275. Geburtstag – geht es um "Experimente", universell angedacht als freies Gegenspiel zur Forderung nach mehr Ordnung und Normativität. Brauchen wir unkontrollierte Ausprobier-Räume, Institutionen, Kollektive? Protagonist des heutigen Liedes ist Stefan, der in seiner aufkommenden Angepasstheit zum Dorn im Auge seines freiheitsliebenden Umfeldes wird.
Den Auftakt macht eine Art Selbstüberprüfung des Reizbegriffs "Bubble", der – laut Kamerun – jenen vermeintlich abgehobenen Berliner Raumschiff-Klüngel beschreibt, der orts- und realitätsfern agieren, regieren und ausschließlich auf sein eigenes Wohlergehen bedacht sein soll.
In seinem gesungenen Tagebuch greift Kamerun Schlagworte und Reibungsflächen aus dem gesellschaftlichen Diskurs auf, wie etwa Multikulturalismus, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Ausgrenzung bestimmter Gruppen, das Gendern oder Diversität. Mit seinen Songs möchte er einen künstlerischen Spiegel zur "Zeitenwende" bieten und dabei auch Widersprüche, wie die Problematik der "eigenen Blase", reflektieren.
Die Lieder entstehen direkt während des Kunstfests Weimar, bei dem Kamerun auch mit seiner Veranstaltungsreihe "Bevor wir kippen – ein Überprüfungs-Cabaret über un- oder nötige Ausdrucksformen" vertreten ist. Zudem kuratiert und moderiert er im Deutschen Nationaltheater den Gala-Abend "Come as you are" am Vorabend der Thüringer Landtagswahl, bei dem unter anderem die Schauspielerin Sandra Hüller auftritt.
Schorsch Kamerun, bürgerlich Thomas Sehl, begann seine Karriere als Sänger der Hamburger Fun- und später Politkpunk-Gruppe "Die Goldenen Zitronen", die 2024 ihr 40-jähriges Bestehen feiert. Gemeinsam mit Rocko Schamoni gründete er den Golden Pudel Club, einen experimentellen Ort für Musik, Kunst und Performance. Seit 2000 inszeniert er meist selbst geschriebene Stücke an großen Stadttheatern, darunter das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, das Schauspielhaus Zürich, die Münchner Kammerspiele, das Residenztheater München und die Berliner Volksbühne.
ARD Kultur | 2024 | 12 Aufnahmen vom 27.8. bis 7.9.2024
Skript, Regie & Aufnahme: Schorsch Kamerun
Synthesizer: Eunike Kramer
Video: Katja Eichbaum
Redaktion ARD Kultur: Kai Winn
Eine Koproduktion von Schorsch Kamerun und ARD Kultur