Herbst 1978: der junge Engländer Mark Reeder landet per Anhalter nachts in Westberlin. Reeder hat keine Kontakte, keinen Schlafplatz, spricht so gut wie kein Deutsch. Und will eigentlich nur ein paar Tage bleiben. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, welche Rolle er in den nächsten Jahren für Berlins Musikunderground spielen wird – auf beiden Seiten der Mauer. Mark Reeder bewegt sich als Grenzgänger regelmäßig zwischen den Welten der damals geteilten Stadt und landet dadurch schnell im Visier der Stasi. Wer ist dieser Typ, der bei einigen der wichtigsten Berliner Musikmomente seine Finger im Spiel hatte und auch heute als Musiker und Produzent immer noch weiter macht?
Der Trip nach Berlin ist für Mark Reeder auch eine Art Flucht: Weg aus dem Arbeiterviertel, weg vom deprimierenden England, in dem Anfang der 1970er die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Gesellschaft erdrückend konservativ. Langeweile ist das Gefühl der Stunde und bricht sich Bahn in einer völlig neuen Musikrichtung: Die neuen englischen Punkbands treffen den Nerv der frustrierten Arbeiterkids. Mark jobbt nach der Schule in einem Plattenladen in der Innenstadt von Manchester und nimmt den Geist von Punk im Koffer mit nach Berlin. Genauso wie seine guten Kontakte in die englische Musikszene, denn seine Freunde Bernard Sumner und Ian Curtis gründen mit Joy Division eine Band, die Geschichte schreiben wird.
Nur wenige Monate nach Marks Ankunft in Berlin meldet sich ein alter Bekannter aus Manchester und bittet ihn, die junge englische Band Joy Division in der Stadt bekannt zu machen. Mark glaubt fest an diesen neuen, dunklen Sound, scheitert aber fast beim Versuch, eine Show in der Stadt zu organisieren – denn in Deutschland interessiert sich zu diesem Zeitpunkt so gut wie niemand für Joy Division. Das Konzert Anfang 1980 soll das erste und gleichzeitig das letzte der Band in Berlin werden. Was danach passiert, markiert einen traurigen Wendepunkt, nicht nur in Mark Reeders Leben, denn diese Band ist nicht irgendwer, es sind seine Freunde.
Das ist die erste B-Seite von Grenzgänger – Die Geschichte des Berlin-Sounds. B-Seiten sind Bonusfolgen, die den Hauptpfad der Geschichte verlassen und ausführlicher auf ein bestimmtes Thema eingehen. Interviews und längere Gespräche, die mehr Kontext geben und sonst oft nur in Ausschnitten Platz in den Hauptfolgen finden.
In dieser B-Seite geht es um die Musikszene von Manchester ab Mitte der 1970er-Jahre. Ein kurzer Spaziergang mit dem DJ Dave Haslam durch die Wiege von Punk, Post-Punk und Rave – durch eine Stadt mit einer langen und besonderen Musikgeschichte.
Die legendären Geschichten des Westberliner Undergrounds werden oft genug als Heldengeschichten von Männern erzählt. Dabei war es eine Gruppe kompromissloser Frauen, ohne die diese berühmt-berüchtigte Szene so nicht existiert hätte: Künstlerinnen wie Gudrun Gut, die Ende der 70er aus der Provinz in die Stadt zieht und mit weiteren Frauen gleich mehrere Bands gründet, deren Sound über damals bekannte Grenzen geht. Oder Labelgründerin Elisabeth Recker, die hier zum ersten Mal in einem Interview zu hören ist. Gudrun, Elisabeth und Mark laufen sich Anfang der 80er über den Weg – in einem Szeneplattenladen im Hinterzimmer eines Schöneberger Schuhgeschäfts.
Sommer 1981: Mark Reeder soll ein Konzert im SO36 in Kreuzberg spielen. Er hat aber noch nicht mal eine Band und der Gig ist in wenigen Tagen. Kurz vor dem Auftritt bringt er seinem Kumpel Alistair ein paar Bassgriffe bei, die letzten Songs schreiben sie in einer verrauchten Kneipe, Minuten vor dem Auftritt. Der Club ist damals dafür berüchtigt, dass Bands vom Publikum mit Bierdosen beworfen werden – die Show droht, in einer Katastrophe zu enden. Es geht rau zu im SO36, doch an keinem anderen Ort der Stadt wäre so eine Aktion möglich gewesen. Der Konzertclub unter Leitung eines türkischen Sozialarbeiters wird die wichtigste Bühne für eine Szene, die Anfang der 80er ihrem Höhepunkt zusteuert. Als letzter großer Liveclub aus dieser Zeit hat das SO bis heute am alten Standort in Kreuzberg überlebt.
Während eine kleine, kreative Underground-Szene in Westberlin eine einzige große Party feiert, ist Mark Reeder sich sicher, dass es so etwas auch auf der anderen Seite der Mauer geben muss. Regelmäßig besucht er Ost-Berlin und sucht nach Punk und Subkultur. "Is’ alles verboten" schreckt ihn nicht ab. Er knüpft Kontakte zu Jugendlichen, schmuggelt Kassetten mit überspielter Musik über die Grenze und ist sich damals schon sicher: Die Stasi hat überall ihre Augen und Ohren. Auslöser für das alles ist die Begegnung mit einem jungen Punk in einer Ostberliner U-Bahn – von dem Mark 40 Jahre lang dachte, er würde ihn nie wiedersehen.
Grenzübergang Friedrichstraße. Eine Gruppe junger Männer will in die DDR einreisen. Sie sind schlicht gekleidet, die Haare ordentlich gekämmt. Das ist wichtig, damit sie nicht auffliegen. Denn diese Fünf sind keine Touris. Es sind Die Toten Hosen aus Düsseldorf, die 1983 noch kaum jemand kennt. Sie wollen ein Konzert spielen, illegal in Ostberlin. Eingefädelt wurde das Ganze von Mark Reeder, und der weiß, was auf dem Spiel steht – für ihn, für die Hosen, aber vor allem für seine Ost-Berliner Freunde.
Auf dieser B-Seite hört man das Gespräch mit Mark und Campino, dem Sänger der Toten Hosen. Die beiden verbinden lange Touren, bei denen Mark in den 80ern als Live-Mischer mitfährt. Wir haben über ihre besondere Freundschaft gesprochen, über die geheimen Konzerte in Ost-Berlin und über Punk in Diktaturen, damals und heute.
In den 80er-Jahren ist Mark Reeder ständig zwischen West und Ost unterwegs. Er schmuggelt Musikkassetten und mit den Toten Hosen sogar eine ganze Band über die Grenze. Aber spätestens beim zweiten Hosen-Konzert 1988 ist klar: Die Stasi weiß Bescheid. Die Ostpunks spüren ständig, wie sehr sie beobachtet werden. Personenkontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, manche kommen in Haft. Dass auch auf Mark ein IM angesetzt war, ein Inoffizieller Stasi-Mitarbeiter, erfährt er erst nach der Wende.
In dieser B-Seite erzählt Silke Klug alias Cat ihre Geschichte. Schon mit 14 war sie Punkerin in Ost-Berlin und bei beiden Geheimkonzerten der Toten Hosen dabei. Sie beschreibt, wie die Szene sie vor dem prügelnden Elternhaus schützte, wie schlimm die Polizei vor allem mit weiblichen Punks umging und wie sie selbst in einer Zelle saß.
Der Wind dreht sich in der Westberliner Avantgarde. Nach wenigen Jahren Dauerparty und extremer Kreativität zerfällt die Szene. Bands geben auf, Labels schließen. Die Neue Deutsche Welle mit ihren poppigen Gute-Laune-Sounds und ihrem starken kommerziellen Erfolg drängt den Underground immer weiter ins Abseits. Dazu kommen Drogen, Alkohol und eine Handvoll Künstler aus Übersee. Nick Cave zieht nach Berlin – und zieht als Couchgast mit in Mark Reeders Kreuzberger 1-Zimmer-Wohnung.
Ende der 80er-Jahre bekommt Mark Reeder eine einmalige Chance. Die Amiga, das staatliche Plattenlabel der DDR, lädt ihn ein, als Westler das Album einer Ostband zu produzieren. Monatelang sitzt er im sozialistischen Schichtbetrieb an den Reglern eines Mischpultes im Ostteil der Stadt. Doch in der Band, die er aufnimmt, soll ein Stasi-Spitzel gewesen sein. Bis heute glaubt Mark: Ihn zu beobachten, sei der eigentliche Grund für die Einladung gewesen. In dieser Folge erzählen der Bassist der Band und Mark von den Wochen im Studio, in dem das letzte Album der DDR entstand. Denn noch bevor die Platte rauskommt, fällt die Mauer.
Als die Stimmung auf der Westberliner Insel drückender wird, geht Mark Reeder nächtelang unter Spiegelkugeln und Laserstrahlen in einer Schöneberger Disko tanzen. Die schillernden Nächte auf dem Dancefloor sind wie Balsam, das Gegenprogramm zu Drogensumpf und Endzeitstimmung. Ein neuer elektronischer Sound verbreitet sich zu dieser Zeit in Berlin – erst im kleinen Kreis in staubigen Kellern, zieht der Bass Ende ‘89 auf die Straßen. Während eine junge Amerikanerin und ihr Freund auf die Idee einer Tanzdemo unter freiem Himmel kommen und damit einen Grundstein für Berlins Ruf als Techno-Stadt legen, träumt ein Ostberliner Teenager von den neuen Clubs auf der anderen Seite der Mauer – und von einer Karriere als DJ.
Ein paar Monate nach dem Mauerfall klebt Mark Reeder Plakate an eine Wand in der Nähe des Brandenburger Tors – und löst damit einen kleinen Skandal aus. Angetrieben von der Aufbruchsstimmung der frühen 90er, gründet er zusammen mit seinen Ost-Berliner Freunden ein eigenes Label für elektronische Musik. Und trifft damit den Nerv der Zeit, denn die Wende gibt House und Techno in der Stadt den großen Schub. Junge Menschen aus Ost und West kommen auf dem Dancefloor zusammen, Mark nimmt einen jungen DJ unter Vertrag, der heute ein Weltstar ist. Doch die kurzen, erfolgreichen Jahre dieser Firma unter Freunden enden vor Gericht.
In dieser B-Seite spricht Paul van Dyk über seine Jugend in Ost-Berlin, Mini-Raves mit Smiley-Flaggen und die Sehnsucht nach echten Clubs auf der anderen Seite der Mauer. Geboren in Eisenhüttenstadt, wäre Matthias Paul fast Tischler geworden – hätte es damals diesen einen Ausbilder nicht gegeben. Wir haben mit ihm über das Aufwachsen bei der alleinerziehenden Mutter gesprochen. Über das Radio als wichtigste Quelle für neue Musik und über seine Oma, die seine erste Schallplattendealerin war.
Ein verlorener Gerichtsprozess gegen den wichtigsten Künstler, der beste Freund und Labelpartner ausgestiegen und der neue Geschäftspartner brutal ermordet: Um die Jahrtausendwende ist Mark Reeder an seinem persönlichen Tiefpunkt.
Aus Berlin wegziehen kommt aber nicht in Frage. Mark stellt sich der Krise an dem Ort, an dem er vor 40 Jahren in einer regnerischen Nacht strandete. Die Stadt, die sich ständig erneuert und ihm immer wieder den Weg weist. Was Mark heute macht, wo seine Mitstreiter aus der Szene gelandet sind und wie sie auf das Berlin von heute blicken, darum geht es in dieser letzten Folge.
Als vorerst letzte Bonusfolge dieser Serie kommt hier die Geschichte von einem kleinen Mädchen aus Westberlin, das schon früh mit Tanzen etwas Positives verband, weil zuhause immer Musik lief.
"Grenzgänger – Die Geschichte des Berlin-Sounds" ist noch nicht ganz vorbei. Zum Abschluss haben wir Ende November 2023 ein großes Live-Event vor Publikum veranstaltet: Mit Protagonist:innen, dem Team und Fans des Podcasts.
In zwei Stunden Talk haben wir auf die Serie zurückgeblickt - aber auch auf Berliner Subkultur im Hier und Jetzt und haben uns mit unseren Gesprächsgästen gefragt, ob und wie der Glanz des wilden Undergrounds noch in die Zukunft reichen wird.
"Grenzgänger – Die Geschichte des Berlin-Sounds" ist noch nicht ganz vorbei. Zum Abschluss haben wir Ende November 2023 ein großes Live-Event vor Publikum veranstaltet: Mit Männern und Frauen aus der Szene, mit dem Team und Fans des Podcasts. In zwei Stunden Talk haben wir auf die Serie zurückgeblickt, aber auch auf Berliner Subkultur im Hier und Jetzt. Außerdem haben wir uns mit unseren Gesprächsgästen gefragt, ob und wie der Glanz des wilden Undergrounds noch in die Zukunft reichen wird.
rbb | 2023 | 18 Folgen
Moderation/Host: Sophia Wetzke
Eine Produktion von Studio Soma im Auftrag von Radioeins, Rundfunk Berlin-Brandenburg